Stadtführung zum Nationalsozialismus und zur Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Tübingen
Tübingen war eine nationalsozialistische Hochburg. Ab 1933 schritt die Ausgrenzung der Tübinger Jüdinnen und Juden rasch voran. Es folgten ein Freibadverbot, Antisemitismus in Schulen und auf der Straße, Berufsverbote, der Abbruch von Geschäftsbeziehungen, Zwangsverkäufe, das Novemberpogrom 1938, Flucht oder Deportation in die Todeslager. Der Geschichtspfad zum Nationalsozialismus macht an 17 Stationen in Tübingen die Geschichte sichtbar und führt an verschiedene authentische Orte des Nationalsozialismus.
Am 10. November 2024 führten Guides der Geschichtswerkstatt im Rahmen der Veranstaltungsreihe „86 Jahre Reichspogromnacht“ 30 interessierte Teilnehmer*innen an ausgewählten Stationen des Geschichtspfades. Thematisiert wurden Tübingen im Nationalsozialismus und die Verfolgung der jüdischen Tübingerinnen und Tübinger.
Synagogenplatz
Die Führung begann am Denkmal Synagogenplatz, wo Brigitte Fritz-Wais die Teilnehmer*innen in die Geschichte der jüdischen Gemeinde und der Synagoge in der Gartenstraße einführte. Neben der Zerstörung der Synagoge in der Pogromnacht 1938 wurde auch der Synagogenplatz als zentraler Erinnerungsort in Tübingen thematisiert.
Jugendherberge: Hitlerjugend und Volksgemeinschaft
Als Nächstes ging es zur Jugendherberge, wo Torsten Himmel die Führung fortsetzte. Die Jugendherberge wurde 1934 als „Haus der Jugend“ erbaut und war Sitz der Hitlerjugend in Tübingen. Hier sollte die Jugend kontrolliert und in die „Volksgemeinschaft“ integriert werden.
Bursagasse: Theodor Dannecker – ein Täter des Holocausts
Weiter ging es zur Bursagasse. Hier berichtete Raphaelle Hückstädt über Theodor Dannecker, einen der wichtigsten Organisatoren der planmäßigen Ermordung der Juden in Europa. Er wurde in der Bursagasse 18 geboren, trat bereits 1932 im Alter von 19 Jahren der NSDAP bei und war später als „Judenreferent“ unter Adolf Eichmann tätig. Theodor Dannecker ist einer von vielen Tübingerinnen, die sich – meist während ihres Studiums – radikalisierten. Weiterführende Informationen über NS-Täterinnen aus Tübingen sind online verfügbar.
Holzmarkt: Das Modehaus „Eduard Degginger Nachfolger“ als Beispiel der „Arisierung“
Am Holzmarkt stellte Anja Hogreve ein Beispiel für die sogenannte „Zwangsarisierung“ vor. Dort, wo sich heute das Modegeschäft „New Yorker“ befindet, war einst das Modehaus „Eduard Degginger Nachfolger“. Die beiden jüdischen Kaufleute Albert Schäfer und Jakob Oppenheim hatten hier damals das erfolgreichste Modegeschäft in Tübingen. Sie mussten das Geschäft weit unter Wert an den NSDAP-Gemeinderat Karl Haidt verkaufen. Das Gebäude befindet sich bis heute im Besitz der Familie Haidt.
Münzgasse: Gestapo und Deportationen
In der Münzgasse beleuchtete Gisela Kehrer-Bleicher die Rolle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Tübingen. Ab 1936 befand sich im Haus Münzgasse 13 der Sitz der Tübinger Polizeidirektion. Bereits im Frühjahr 1933 wurden in Tübingen 27 politische Gegner verhaftet und in das Konzentrationslager Heuberg verschleppt. Ab 1941 plante die Gestapo die Deportation der Jüdinnen und Juden. Insgesamt 22 jüdische Bürger*innen aus Tübingen wurden deportiert.
Kronenstraße 6: Familie Hirsch und Fritz Bauer
Ein weiterer Stopp der Führung war die Kronenstraße 6, die neueste Station des Geschichtspfades, welche im Mai 2024 eingeweiht wurde. Anja Hogreve stellte die Geschichte der Familie Hirsch vor. Leopold Hirsch I. war der erste Jude, der das Recht erkämpfte, in Tübingen zu bleiben. In der Kronenstraße 6 eröffnete er ein Textilgeschäft, das während der NS-Zeit ebenfalls unter Wert verkauft werden musste. Zudem thematisierte Anja Hogreve Fritz Bauer, einen Nachkommen der Familie Hirsch. Er wurde als hessischer Generalstaatsanwalt bekannt, der in der Nachkriegszeit maßgeblich zur Verfolgung von NS-Verbrechen beitrug.
Schloss Hohentübingen: NS-Verbrechen an der Universität Tübingen
Die Führung endete am Schloss Hohentübingen, wo während der NS-Zeit Institute untergebracht waren, die die Ideologie des Regimes wissenschaftlich legitimieren sollten. Tamuna Koiava zeigte die Verstrickung der Universität Tübingen mit dem Nationalsozialismus auf und beleuchtete die Rolle der Wissenschaft, insbesondere der Medizin, bei der Unterstützung und Durchführung von NS-Verbrechen.