NS-Herrschaft, Widerstand und Kriegsende – ein Rundgang durch Tübingen am 9. Mai 2025

NS-Herrschaft, Widerstand und Kriegsende – ein Rundgang durch Tübingen am 9. Mai 2025
Freitag, den 9. Mai 2025 – kurz vor 16 Uhr: Vor dem Tübinger Rathaus versammeln sich immer mehr Menschen. Sie wollen am Stadtrundgang der Geschichtswerkstatt Tübingen und der VVN-BdA Kreisleitung Tübingen-Mössingen teilnehmen. Der Rundgang ist Teil der Veranstaltungen zum 8. Mai – dem „Tag der Befreiung“, an dem 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete. Rund 60 Teilnehmer*innen lauschen aufmerksam den einleitenden Worten von Martin Ulmer. Auch Vertreterinnen des Schwäbischen Tagblatts und des Regionalsenders RTF1 begleiteten den Rundgang. In etwa zwei Stunden führten Martin Ulmer, Jens Rüggeberg, Raphaelle Hückstädt, Gisela Kehrer-Bleicher, Anja Hogreve, Michaela Häffner und Tamuna Koiawa die Teilnehmenden zu sechs Stationen, um an authentischen Orten über Verfolgung, Widerstand, Befreiung und Erinnerung zu berichten.
1. Station: Zerschlagung der kommunalen Demokratie und Kriegsende
Jens Rüggeberg begann vor dem Rathaus mit einem Rückblick auf das Kriegsende in Tübingen: Am 19. April 1945 marschierten französische Truppen kampflos in die Stadt ein. Der Oberbürgermeister Ernst Weinmann war zuvor geflohen, nur ein Stellvertreter blieb im Amt, als französische Panzer durch die Haaggasse rollten. Tübingen blieb weitgehend unzerstört, selbst die Neckarbrücke wurde nicht gesprengt. In den folgenden Tagen verhafteten die Besatzer 19 mutmaßliche NS-Täter, darunter auch Professoren der Universität. Rüggeberg betonte: Die Stadt überstand nicht nur physisch den Krieg, sondern blieb auch geistig lange in der NS-Zeit verhaftet. Eine umfassende Aufarbeitung begann erst Jahrzehnte später.
Anschließend erläuterte Martin Ulmer die Zerschlagung der kommunalen Demokratie. Tübingen war bereits vor 1933 eine Hochburg der Nationalsozialisten. Bei der letzten Reichstagswahl 1933 wählten fast 50 Prozent die NSDAP in Tübingen – im Deutschen Reich zum Vergleich 44 Prozent. Der deutschnationale Koalitionspartner der NSDAP erhielt 12 Prozent in Tübingen und im Reich 8 Prozent.
Bereits am 31. März 1933 wurde der demokratisch gewählte Gemeinderat aufgelöst. Die Nationalsozialisten übernahmen die kommunalen Gremien und gingen gegen oppositionelle Mitglieder wie den kommunistischen Stadtrat Hugo Benzinger oder den jüdischen Stadtrat Simon Hayum vor. Das Klima in Tübingen veränderte sich rasch – bereits im Mai 1933 wurde Jüdinnen und Juden der Zugang zum Freibad verboten. Es war das erste Freibadverbot im Deutschen Reich.
Raphaelle Hückstädt thematisierte abschließend den Neptunbrunnen am Marktplatz. Die Säule wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aus eingeschmolzenen Waffen gefertigt – trotz Protesten wurde der Brunnen 1948 feierlich enthüllt.
2. Station: Gestapo und Deportationen
Nur wenige Schritte vom Rathaus entfernt liegt die Münzgasse 13. Wo sich heute ein Wohnprojekt befindet, befand sich ab 1936 die Polizeidirektion mit einer Außenstelle der Gestapo. Gisela Kehrer-Bleicher berichtete eindrücklich über die Verfolgung politischer Gegner: Ab 1933 konnte die Gestapo Menschen ohne rechtliche Grundlage verhaften. Rund 30 Tübinger*innen wurden ins KZ Heuberg gebracht und dort misshandelt.
Auch das Schicksal der jüdischen Bevölkerung thematisierte Gisela Kehrer-Bleicher: 1933 lebten 101 jüdische Bürger*innen in Tübingen. Viele wurden durch Entrechtung, Berufsverbote und wirtschaftlichen Druck zur Flucht gezwungen. Ab 1941 begannen die Deportationen in Vernichtungslager. Insgesamt wurden 22 jüdische Tübinger*innen deportiert – nur zwei überlebten.
Erwähnung fanden auch Tübinger NS-Akteure wie Walter Stahlecker, Theodor Dannecker und Martin Sandberger. Dies sind nur einige Namen von Tätern, die entweder aus Tübingen stammten oder hier studierten. Ein Projekt der Geschichtswerkstatt Tübingen informiert seit 2020 über die Tübinger NS-Akteure.
Zum Abschluss wies Gisela Kehrer-Bleicher auf den Stolperstein für Pfarrer Richard Gölz hin. Er hatte gemeinsam mit seiner Frau Hildegard jüdische Menschen versteckt, wurde 1944 verhaftet und ins KZ Welzheim deportiert.
3. Station: Jüdische Geschichte und Zwangsverkauf
Anja Hogreve stellte am Holzmarkt das ehemalige „Modehaus Degginger Nachfolger“ als Beispiel für die „Arisierung“ jüdischen Eigentums vor. Die jüdischen Kaufleute Jakob Oppenheim und Albert Schäfer hatten mit dem „Modehaus Degginger Nachfolger“ an der Ecke Holzmarkt/Neue Straße ein beliebtes und modernes Modegeschäft. 1939 mussten sie es unter Zwang an Karl Haidt verkaufen. Das Geschäft bestand unter neuem Namen bis 2007 weiter, bis die Modekette „New Yorker“ hier einzog.
Ein weiteres Beispiel: Das Textilgeschäft von Leopold Hirsch in der Kronenstraße 6, das ebenfalls unter Wert verkauft werden musste. Leopold Hirsch war eine bedeutende Figur der jüdischen Geschichte Tübingens. Er kam aus Wankheim und wollte nach Tübingen umziehen, dort ein Geschäft eröffnen und seinen Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Seit der Universitätsgründung 1477 hatten Juden in Tübingen kein Wohnrecht. 1850 erkämpfte er sich das Bürgerrecht und siedelte mit seiner Familie nach Tübingen um und eröffnete sein Textilgeschäft. Damit wurde der Grundstein für eine jüdische Gemeinde in Tübingen gelegt – 1882 wurde eine Synagoge in der Gartenstraße eingeweiht. Diese wurde in der Reichspogromnacht 1938 zerstört.
Zum Abschluss sprach Raphaelle Hückstädt über das erste französische Kaufhaus in Tübingen: Das „Économat“ wurde 1945 im beschlagnahmten Modehaus Haidt eröffnet.
4. Station: Arbeiterbewegung und Widerstand
Vor dem heutigen Zimmertheater, ehemals Gasthaus „Löwen“, sprach Gisela Kehrer-Bleicher über die Bedeutung des Ortes für die Tübinger Arbeiterbewegung. Der Saal diente als wichtiger Versammlungsort von SPD, KPD und Gewerkschaften.
Nach den Wahlerfolgen der NSDAP gab es ab 1932 gemeinsame Aktionen der Arbeiterparteien. Am 30. Januar 1933 demonstrierten etwa 200 Menschen auf dem Marktplatz. Einen Tag später kam es in Mössingen zum Generalstreik.
Nach dem Reichstagsbrand wurden viele aktive Mitglieder der Arbeiterbewegung verhaftet und ins KZ Heuberg gebracht. Parteien und Organisationen wurden im Laufe des Jahres verboten. Dennoch leisteten einzelne Personen Widerstand – etwa die Lehrerin Julie Majer oder die Widerstandsgruppe um Ferdinand Zeeb.
5. Station: Demokratischer Neubeginn
Vor der Gaststätte „Zum Pflug“ erinnerte Michaela Häffner an die Zeit unmittelbar nach Kriegsende. Hier trafen sich Sozialdemokraten und Kommunisten, um – noch vor der Neugründung politischer Parteien – eine demokratische Vereinigung zu gründen. Der neue Gemeinderat von 1945 bestand größtenteils aus deren Mitgliedern.
6. Station: Widerstand und Erinnerung
Zum Abschluss sprach Jens Rüggeberg über Cäsar von Hofacker, einen der Beteiligten am Attentat vom 20. Juli 1944. Obwohl Mitglied der NSDAP, stellte er sich gegen das Regime. Am 25. Juli 1944 wurde er in Paris verhaftet und später hingerichtet.
Tamuna Koiawa berichtete über die Universität Tübingen im Nationalsozialismus. Viele Angehörige unterstützten das NS-Regime aktiv – Widerstand war hier kaum zu finden. Auf dem Schloss Hohentübingen kam es zu Neugründungen von Instituten, wie zum Beispiel das Rassekundliche Insitut oder das Institut der Deutschen Volkskunde. Diese waren für die NS-Ideologie bedeutsam, da sie durch Pseudowissenschaft die Politik der Nationalsozialisten legitimierten uns unterstützten. Nach 1945 wurden über die Hälfte der Dozenten als politisch belastet entlassen, doch 85 Prozent kehrten innerhalb eines Jahrzehnts zurück.
Martin Ulmer schloss den Rundgang mit einem Rückblick auf die Erinnerungskultur in Tübingen. Jahrzehntelang wurde das NS-Erbe verdrängt. 1958 erklärte der Gemeinderat sogar, die Stadt sei nicht für die Erinnerung verantwortlich. Erst in den 1970er-Jahren begann ein Umdenken – etwa durch Lilli Zapfs Buch „Die Tübinger Juden“ (1974). Mit Wilfried Setzler als neuen Leiter des Kulturamts wurde ab 1980 ein neuer Umgang mit der Vergangenheit etabliert. 1992 präsentierte Benigna Schönhagen ihre Ausstellung „Nationalsozialismus in Tübingen: Vorbei und vergessen?“, die neuen Maßstäbe setzte. 1984 gründete sich die Geschichtswerkstatt Tübingen, die u.a. zur Errichtung des Synagogenplatz-Denkmals im Jahr 2000 beitrug.