"So wird in Tübingen Vergangenheit bewältigt“ – Die Tübinger Wissenschaften und die Akademisierung der Schuld in den 1960er Jahren

Veranstaltungsdetails

  • Wann ‏ : ‎ 03. November 2022 | 20:00 Uhr
  • Veranstaltungsort ‏ : ‎ Hörsaal 001 im Oberschulamt
  • Adresse ‏ : ‎ Keplerstraße 2, 72074 Tübingen

Das Jahr 1964 begann im Universitäts-Dorf Tübingen mit einem Paukenschlag, der Studierende und Lehrende in hellen Aufruhr versetzte: In der Februarausgabe der Studierendenzeitung Notizen klagte der damalige Chefredakteur Hermann L. Gremliza die »braune Universität« Tübingen ob ihrer Vergangenheit – und nicht zuletzt ihrer Verantwortung – im Nationalsozialismus an. Die im Raum stehenden Vorwürfe wogen schwer. Zum einen richtete Gremlizas Artikel den Fokus vor allem der Studierenden auf die Tatsache, dass die Universität – in ihrer Selbstdarstellung in der Tradition des Humanismus stehend – selbst wesentliche Trägerin des nationalsozialistischen Regimes war. Zum anderen machte er deutlich, dass diese Tatsache auch eine zeitgenössische politische Dimension hatte: Noch immer lehrten Professoren, die ehemals glühende Anhänger des Nationalsozialismus und wesentliche Stützen der ideologischen Durchsetzung der Wissenschaften in Tübingen waren, unbehelligt an der Universität weiter. Besondere Wirkmacht entfaltete die 53. Ausgabe der Notizen auch wegen des Titelblatts, das eine Fotografie des Ölgemäldes zierte, das der ehemalige Rektor der Universität, Hermann Hoffmann, von sich für die Rektorengalerie anfertigen ließ – in SA-Uniform gekleidet, mit nationalsozialistischen Orden geschmückt und gleichzeitig die goldene Amtskette der Tübinger Rektoren tragend. Sinnfälliger hätte die unheilige Allianz, die die Universität mit dem Nationalsozialismus einging, kaum dargestellt werden können. Im Frühjahr 1964 stand sie nun im Rampenlicht – in Tübingen und weit darüber hinaus. Zu groß wurde der Druck der Öffentlichkeit, als dass ein »kommunikatives Beschweigen« (Hermann Lübbe) der Vergangenheit noch möglich gewesen wäre, zumal im sich verändernden gesellschaftlichen Kontext der 1960er Jahre. So sah sich die Universitätsleitung schließlich zum Handeln gezwungen: Im Wintersemester 1964/65 sollte sich mit Tübingen erstmals eine bundesdeutsche Universität im Rahmen einer Ringvorlesung öffentlich ihrer NS-Vergangenheit stellen.

In seinem Vortrag rekonstruiert Bastian Wade die Ereignisse, die die Universitätsleitung entgegen tradierter Abwehrreflexe schließlich bewogen, die NS-Vergangenheit der Universität öffentlich und in dieser Form zu thematisieren. Er bettet das Geschehen dabei in den größeren gesellschafts- und geschichtspolitischen Kontext ein, stellt aber auch immer wieder Querbezüge zur »zweiten Geschichte des Nationalsozialismus« (Peter Reichel) in Tübingen her und zeigt, dass die Ringvorlesung »Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus« ein Aufbruchsmoment im Umgang mit der NS-Vergangenheit darstellte. Schließlich wird er auf Basis der Vortragsmanuskripte diskutieren, ob und inwieweit die Beiträge zur Vorlesungsreihe Fragen der Verantwortung der Universität Tübingen, der Wissenschaften und Wissenschaftler aufgriffen und ob sie dabei halfen, »die Vergangenheit zu erkennen, um die Gegenwart zu bewältigen« (Theodor Heuss).

Eine Kooperationsveranstaltung der Geschichtswerkstatt Tübingen e.V., des Seminars für Zeitgeschichte der Universität Tübingen und des Arbeitskreises Universität Tübingen im Nationalsozialismus im Rahmen der Tübinger Reihe zu 84 Jahre Pogromnacht.