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Meeting week 2018

Anlässlich 80 Jahre Pogromnacht luden die Universitätsstadt Tübingen und die Geschichtswerkstatt Nachkommen ehemaliger Tübinger Jüdinnen und Juden zu einer intensiven Begegnungswoche ein.

Besuch der Familien Doctor (Israel und USA) und Marque (USA) zum 80. Jahrestag der Pogromnacht, 8. bis 13. November 2018

In einem Kooperationsprojekt der Geschichtswerkstatt mit dem Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen wurden die Nachkommen der früheren Tübinger Familien Wochenmark und Bernheim von der Stadt Tübingen eingeladen. Der Einladung gefolgt sind fast alle Mitglieder der beiden Familien.

Von der Familie Wochenmark/Marque: Jeff Marque, seine Frau Miyako, die Kinder Leonard, Alissa und ihr Eheman Farhang sowie Bernard Marque, seine (Ex-)Frau Carol und Tochter Jane.

Von der Familie Bernheim/Doctor: Doris Doctor (95), die Tochter Linda und ihr Ehemann Elliot Ginsberg, die Tochter Ruth und ihre Kinder Ben, Oz, Tom und Leigh sowie deren Partner:innen.

Insgesamt waren es 19 Personen. Diese Einladung war daher die größte seit den Besuchen in den 1980er und 1990er Jahren.

Das Programm umfasste zehn Veranstaltungen, davon vier Schulbesuche, zusätzlich noch drei offizielle Essen. Der inhaltliche Schwerpunkt war das Gespräch mit der zweiten und dritten Generation, zum Beispiel darüber, welche Erwartungen und Wünsche es an künftige Einladungen und Begegnungen gibt. Dieser Fokus war richtig gesetzt und es wurde intensiv diskutiert.

Das Programm im Einzelnen

Donnerstag, 8. November 2018:

15:30 Uhr Stadtführung in englischer Sprache durch Benedict von Bremen zum Thema "Nationalsozialismus und Verfolgung der Juden in Tübingen". An vier Stelen des Geschichtspfads zum Nationalsozialismus (Rathaus, Holzmarkt, Bursagasse, Münzgasse) erläuterte Benedict den interessierten Gästen die "Machtergreifung" in Tübingen, die "Arisierung" eines großen Textilgeschäftes, ein Täterprofil und die Rolle der Gestapo.

18:00 Uhr Gesprächsrunde im Salzstadel mit allen Gästen, Jugendguides und Vertreter:innen des Jugendgemeinderats. Die Moderation hatte Christopher Blum. Es wurden Themen aus vielen Bereichen angesprochen, zum Beispiel wie die zweite und dritte Generation mit ihrer Familiengeschichte umgeht, in welcher Form der Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden erinnert und gedacht wird oder welche unterschiedlichen Erfahrungen und Gedenkformen es in den USA und Israel gibt. Es wurden auch politische Themen angesprochen, zum Beispiel der Israel-Konflikt.

20:00 Uhr Abendessen im Bootshaus: Offizielles Abendessen auf Einladung der Universitätsstadt Tübingen.

Stadtführung in englischer Sprache.

Foto: Geschichtswerkstatt Tübingen e.V.

Gedenkstunde am Denkmal Synagogenplatz, 9. November 2018. Doris Doctor und ihre Töchter zünden die Kerzen zur Begrüßung des Schabbat an.

Foto: Geschichtswerkstatt Tübingen e.V.

Freitag, 9. November 2018:

14:00 Uhr Rathaus, Ratssaal: Offizielle öffentliche Gedenkstunde der Universitätsstadt. Moderation: Dagmar Waizenegger (Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur), die Hauptrede hielt Erster Bürgermeister Cord Soehlke, weitere Beiträge kamen von Jeffrey Marque und David Holinstat; auch von zwei Jugendguides der Geschichtswerkstatt kam ein kurzer Beitrag.

Anschließend hatte die Stadt zum Stehempfang eingeladen, wo es zu interessanten Begegnungen und Gesprächen kam. Insgesamt waren alle Redebeiträge gut. Doch leider waren nicht allzuviele Besucher:innen da, auch vom Gemeinderat war kaum jemand da.

16:00 Uhr Gedenkfeier am Synagogenplatz: Moderation Benedict von Bremen. Es wurde auf einem großem Bildschirm die virtuelle Rekonstruktion der Tübinger Synagoge gezeigt. Der Höhepunkt der Gedenkfeier war die von Linda Doctor und ihrem Ehemann Rabbiner Elliot Ginsburg durchgeführte Schabbat-Feier. Alle Mitglieder der Familien Doctor nahmen teil: Linda, Ruth und ihre 95-jährige Mutter Doris Doctor entzündeten die Kerzen, Elliot sang und sprach die Segenswünsche und das Kaddisch. Am Schluss wurde das von der Bäckerei Walker gebackene koschere Brot unter den Anwesenden verteilt. Für viele der circa 150 Anwesenden war dies der emotionale Höhepunkt der ganzen Besuchswoche, wurde doch zum ersten Mal seit der Zerstörung der Synagoge vor 80 Jahren hier wieder eine Shabbat-Feier gehalten. Ein Filmteam des SWR hat Teile der Feier gefilmt.

Sonntag, 11. November 2018:

17:00 Uhr Podiumsgespräch "Rückblicke, Einblicke, Ausblicke. Begegnung mit der 2. und 3. Generation". Einführung durch Dagmar Waizenegger. Am Podium nahmen teil: Jeffrey Marque und sein Sohn Leonard, Linda Doctor und ihr Neffe Oz Yeshurun. Moderation: Wiebke Ratzeburg (Leiterin des Stadtmuseums Tübingen) und Benedict von Bremen. Es ging um individuelle Themen der Familiengeschichte und den unterschiedliche Umgang damit: Einerseits Familie Doctor, die mit Israel und der jüdischen Religion verbunden ist, andererseits Familie Marque, welche eher agnostisch und stärker taumatisiert durch das Schicksal der Eltern und Großeltern ist. Von Marques wurde auch die politische Dimension der vielerorts wieder bedrohten allgemeinen Menschenrechte betont.

Im großen Saal des Tübinger Rathauses kamen am 11. November 2018 Nachkommen von Tübinger Jüdinnen und Juden der 2. und 3. Generation (links: Leonard Marque, Jeff Marque, rechts: Oz Yeshurun, Linda Doctor) mit Wiebke Ratzeburg (Leiterin des Stadtmuseums Tübingen) und Benedict von Bremen (Geschichtswerkstatt Tübingen e.V.) zu einer Podiumsdiskussion zusammen.

Foto: Geschichtswerkstatt Tübingen e.V.

Montag, 12. November 2018

12:30 Uhr: Offizielles Mittagessen mit Oberbürgermeister Boris Palmer. Es war der einzige Termin in der ganzen Besuchswoche, an dem der Oberbürgermeister anwesend war.

18:00 Uhr Kino Museum/Studio: Vorführung des Films "Wege der Tübinger Juden". Moderation durch Christopher Blum und Benedict von Bremen. Der Film wurde zu ersten Mal mit englischen Untertiteln gezeigt, die von der Universitätstadt Tübingen finanziert wurden, von Benedict von Bremen erstellt und vom Zentrum für Medienkompetenz der Universität Tübingen eingearbeitet worden waren. Viele der Gäste konnten ihn daher zum ersten Mal richtig verstehen. Es war sehr bewegend, Zeitzeug:innen, die zum Teil nicht mehr leben, beispielsweise Arnold Marque, im Film zu sehen. Der Film wurde von den Gästen sehr gelobt, vor allem auch der Verzicht auf jegliche untermalende Musik. Auch im anschließenden Publikumsgesprächgespräch kam es zu sehr emotionalen Momenten. Das Kino war fast voll.

20:00 Uhr Abschlussessen in der Alten Kunst auf Einladung der Geschichtswerkstatt.

Auch außerhalb des offiziellen Programms kam es zu gemeinsamen Unternehmungen und Begegnungen. So besuchte die Familie Doctor mit Mitgliedern der Gechichtswerkstatt am Samstag den jüdischen Friedhof in Wankheim.

Schulbesuche

Folgende Schulen waren beteiligt:

Das Uhland-Gymnasium am Donnerstagvormittag mit Familie Marque. Der Besuch war von den Lehrerinnen und Schüler:nnen sehr gut vorbereitet worden. Die Schüler beteiligten sich sehr aktiv in gutem Englisch an der Diskussion und stellten auch Bezüge zur eigenen Familie her und sprachen über ihre in den Nationalsozialismus verstrickten Großväter, was zu sehr emotionalen Momenten führte. Auf dem Podium erzählten Jeff, Bernard, Alissa und Leonard Marque über ihre jeweils individuellen Erfahrungen mit der Familiengeschichte.

Auch die Schulbesuche in der Geschwister-Scholl-Schule und im Karl-von-Frisch-Gymnasium Dusslingen am Freitagvormittag waren beeindruckend. Am Montag berichtete die 95jährige Doris Doctor im Wildermuth-Gymnasium aus ihrer Zeit an dieser Schule.

Im Uhland-Gymnasium.

Foto: Ulrike Baumgärtner

Feedback der Gäste

Von den Gästen kam während des Besuchs und im Anschluss in mehreren E-Mails durchweg ein sehr positives Feedback. Vor allem der Blick auf die eigene Familiengeschichte im Austausch der Generationen wurde als Gewinn betrachtet, ebenso die im Kreis der Gäste entstandenen Diskussionen über Erinnerungskultur, den Umgang mit der eigenen Familienbiografie sowie die unterschiedlichen Wahrnehmungen in Israel und den USA. Die dritte Generation unter den Gästen ist sehr daran interessiert, den Dialog und die Verbindung mit Tübingen zu erhalten, mit neuen Inhalten und Themen zu füllen und auch künftige Besuche mitzugestalten.

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